Tagungsbericht
Im Fokus der Tagung nicht Verfahren, sondern Erfahrungen!
Am 11./12.06.2015 fand die Tagung mit dem o.g. Titel statt, an der 143 Fachkräfte aus der öffentlichen und freien Jugendhilfe teilnahmen. In seiner Eröffnungsrede sagte Bruno Pfeifle, Leiter des Jugendamtes Stuttgart, Vorsitzender des Beirates der AGFJ, dass im Mittelpunkt der Tagung keine großen theoretischen Erörterungen, sondern praktische Erfahrungen stehen werden, wie das Richtige richtig getan werden kann. Hierzu gebe es viele erfolgreiche Modelle, wie den systemischen Ansatz, die systemische Interaktionstherapie, den Familienrat, multidisziplinäre Teams in den Hilfen zur Erziehung, intensive Vernetzungsstrukturen und qualitative Standards nach innen und außen, die mit einer professionellen Haltung gelebt werden.
Ein solcher Beitrag zur Qualitätsentwicklung war auch das Bundesmodellprojekt „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“ (2006 bis 2009). Im Vorfeld dieser Tagung entstand die Idee zu recherchieren, was aus dessen Ergebnissen geworden ist. Ziel des Bundesmodellprojektes war es, die Hilfeerbringung und deren Qualität konsequenter auf die Wirkungen auszurichten. In diesem Kontext wurden vor Ort wirkungsorientierte Leistungs-, Entgelt und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen nach §§ 78a ff. SGB VIII entwickelt. Bei allen 11 ehemaligen Modellstandorten haben wir nachgefragt, ob diese auch heute noch mit den dort entwickelten und implementierten Ansätzen, Instrumenten und Verfahren arbeiten. Vier Antworten kamen zurück, versehen mit der Auskunft, dass diese noch ganz oder partiell nach den damals entwickelten Standards arbeiten. Ein Beispiel hierfür ist das Jugendamt des Landkreises Böblingen, das auf dieser Tagung mit seinen langjährigen Erfahrungen vertreten war. Wir haben aber auf dieser Tagung auch – im Sinne einer Selbstevaluation – darüber diskutiert, wie das geht, sich selber zu beforschen, und welche Wirkungen und Nebenwirkungen es gibt.
Wie breit ist das Feld? Stand der Wirkungsforschung und ein kleiner Überblick, was alles Evaluation und Wirkungsforschung ist …
Prof. Dr. Dirk Nüsken, Professor für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Evangelische Fachhochschule RWL Bochum, hielt hierzu den Eingangsvortrag und hat sich mit uns allen gemeinsam auf die „Vermessung des Feldes“ begeben … Er stellte fest, dass man seit 1950 folgende vier Studien-Typen zur Erziehungshilfe in Deutschland ausmachen kann: Lebensbewährungsstudien, Studien zur Lebenssituation, Hilfeverlaufsstudien sowie Wirkungsevaluation. Alle diese Studien weisen Erfolge in den Hilfen zur Erziehung nach. Aber: In personenbezogenen sozialen Dienstleistungen gebe es kaum ursächliche Wirkungszusammenhänge, da diese ein multikomplexes, von vielen Variablen ausgehendes Programm sei. Möglich seien jedoch wahrscheinlichkeitstheoretische Wirkungsbestimmungen. Jedoch müsse nicht nur gefragt werden „Was wirkt?“, sondern auch: „Was wirkt für wen unter welchen Bedingungen?“. An dieser Frage sollte auch die Praxis interessiert sein, wie sich mit einem Beispiel aufzeigen lässt: „Stellen Sie sich vor, man würde belegen können, dass wir mit einer bestimmten Form der Erziehungshilfe z.B. in der SPFH bei bestimmten Familien eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 60 Prozent haben. Ob nun die Familie Schneider, mit der sie arbeiten, zu diesen 60% oder zu den anderen 40% gehört, sagt ihnen diese Wirkungswahrscheinlichkeit nicht, dazu brauche sie Kontextwissen.“ In der wirkungsorientierten Gestaltung von sozialen Dienstleistungen in der Praxis seien zudem anspruchsvolle Wirkungsbestimmungen, wie sie (und das auch nur vergleichsweise selten) in einschlägigen Studien zu finden sind, kaum realisierbar, denn welcher freie Träger oder welches Jugendamt könne sich dauerhaft eine eigene Forschungsabteilung leisten, die solche Ergebnisse erzielen kann?
Wichtig und hilfreich sei es deshalb nicht zuletzt, auch Forschungsergebnisse zu den Hilfeerfahrungen von Ehemaligen Hilfebeziehern zu nutzen. Vorliegende diesbezügliche Ergebnisse weisen u.a. folgende Wirkfaktoren auf:
- Hilfe muss emotional in Beziehung eingebettet sein,
- Bindungspersonen sind Schlüssel,
- soziale Erfahrung in Gruppe und Gemeinschaft sind bedeutsam,
- Kinder und Jugendliche müssen den Grund der Unterbringung verstehen können,
- tragfähige Beziehung sind ebenso notwendig wie
- wahrnehmbare Orientierung und die Vermittlung von Zuversicht.
Wenn wir rückgebunden durch Theorie und Empirie auf diesem Weg nach den fachlichen Regeln der Kunst fragen, heiße das mit Blick auf die eingangs erwähnten Ergebnisse des Bundesmodellprogramms im Umkehrschluss: Einrichtungen der Erziehungshilfe, die auch heute keine entsprechende Beteiligung der jungen Menschen ermöglichen, und Erziehungshilfekontexte, in denen öffentliche und freie Träger nicht in fachlicher Auseinandersetzung und gemessen an entsprechenden Standards und Verfahren zusammenwirken, erbringen schlicht unprofessionelle Hilfen.
„Gott sei Dank haben wir Effekte.“
Evaluation teilstationärer Erziehungshilfen im Projekt PETRA
Dr. Stefan Rücker, Forschungsgruppe Petra, Schlüchtern, stellte Ergebnisse eigener Untersuchungen im Feld der teilstationären Hilfen vor. Für diese Eigenevaluation wurden 400 Familien zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten (Anfang, Ende sowie 3 Jahre nach Beendigung der HzE) befragt und 5 Fragebögen entwickelt, die ressourcenorientiert aufgebaut waren. Gefragt wurde nach Symptomen, Ressourcen und Erziehungskompetenzen.
Wichtige Ergebnisse waren:
- Bei den Anschlusshilfen stellte sich heraus, dass es weniger Zuwachs an Erziehungskompetenz gibt sowie Beziehungsprobleme mit den Eltern.
- 25 % der Jugendlichen scheitern am Übergang Schule-Beruf.
- Kinder wollen Eltern dazu bringen, die Hilfe abzubrechen – sehr schwierig, diesen Umstand überhaupt herauszufinden.
- Alleinerziehende haben oft nicht genügend Ressourcen und Kraft für eine HzE und brechen diese darum ab. Probleme in der Familie bleiben und diese führen später oft wieder zu einer HzE-Maßnahme.
Ziel des Vortrags von Herrn Rücker war es, mit seinem Vortrag der Fachpraxis Mut zu machen. Es gebe Möglichkeiten zu zeigen, was wir tun und dass es gelingt, Effekte abzubilden und Ergebnisse zu dokumentieren. Auch wenn ihm bewusst sei, dass oftmals Ressourcen und Personal fehlen, um Wirkungen abzubilden, weil ständig neue Prioritäten durch das Alltagsgeschäft gesetzt werden. Wichtig war ihm auch zu betonen, dass bei einer solchen Evaluation im Umgang mit den Familien viel Empathie gebraucht wird, da die Eltern nicht das Gefühl haben sollen „etwas falsch gemacht zu haben“, aber klar werden soll, dass manches durchaus (noch) besser werden kann.
„Abbrüche in stationären Hilfen zur Erziehung“ – Positive und negative Wirkindikatoren
Heino Möller, EFQM-Assessor, Fach- und Organisationsberatung, e/l/s Institut für Qualitätsentwicklung sozialer Dienstleistungen, Wülfrath, stellte Ergebnisse aus dem oben genannten Projekt vor und ging zu Beginn noch einmal auf dessen Genese ein. Anlass des Projekts war die hohe Anzahl der Abbrüche in den erzieherischen Hilfen, die (je nach Studie und Definition) zwischen 30 und 60 Prozent variiere. Hierzu wurden im Projekt die Ursachen analysiert und eine Feldstudie durchgeführt. Mit Hilfe einer schriftlichen Befragung wurden die Unterschiede zwischen den abgebrochenen Hilfen versus durchlaufene Hilfen in Bezug auf individuelle und Organisationsmerkmale verglichen. Ausgewertet werden konnten 395 Fragebögen, mit 36,7 % Abbrüchen.
Als die fünf wirkmächtigsten fachlichen Prozessmerkmale für gelingende Heimerziehung (und mit der signifikant die Abbruchquote gesenkt werden kann) wurden identifiziert:
- Schulbesuch und Bildungserfolge zügig fördern,
- Wohlfühlen und Zufriedenheit der Klienten erreichen,
- krisenhafte Entwicklungen frühzeitig und nachhaltig abwenden,
- höchste Verlässlichkeit der Dienstleistung gewährleisten,
- Sinnerleben und Nutzenerwartung bei Klienten wecken.
Hilfen wurden eher abgebrochen, wenn die jungen Menschen nicht wissen, warum sie in der Einrichtung sind, vor allem, wenn die Probleme in der Familie gesehen werden. In der Diskussion wurde der Frage nachgegangen, ob die Hilfen falsch gewählt wurden, wenn ein Abbruch folgt - und wer diesen Abbruch dann definiert. Ist es das Jugendamt, sehen das die betroffenen Jugendlichen dann auch so?
Um krisenhafte Entwicklungen frühzeitig und nachhaltig abzuwenden, sei Folgendes wichtig:
- Früherkennung krisenhafter Entwicklungen konzeptionell verankern!
- Konfliktpotenzial schon in der Anbahnung kommunizieren,
- Krisenbearbeitung unter Beteiligung des jungen Menschen, der Personensorgeberechtigten und des Jugendamtes,
- Krisen-Informationsfluss intern absichern (Übergaben),
- Notfallnetzwerk (Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Polizei, Schule),
- Nachbearbeitung von Krisen – Lernen aus Krisen,
- Wissen um Belastungen der jungen Menschen.
Auf der Basis dieser Faktoren wurde eine Zusammenstellung erarbeitet, inwieweit es sinnvolle konzeptionelle Ergänzungen gibt: Das Qualifizierungsprogramm WEGE sei ein strukturiertes Handlungsprogramm zu den fünf Wirkfaktoren und systemdynamischen Modellen zur (Abbruch-)Risikoabschätzung.
Diskussion und Erfahrungsaustausch in Arbeitsgruppen – gewählt werden konnte zwischen folgenden Angeboten, deren Inputs sich auch in der Tagungsdokumentation wiederfinden:
- „Wir waren Teil des Bundesmodellprojektes. Wir arbeiten noch immer so!“ Wirkungsorientierte Gestaltung der Hilfen zur Erziehung im Jugendamt des Landkreises Böblingen
- Wirksamkeit teilstationärer Hilfen zur Erziehung am Beispiel des Projektes Petra in Fulda
- Biografieverläufe nach Beendigung stationärer Hilfen zur Erziehung, Jugendamt Dresden
- WIMES – Messung der Wirkung von Hilfen zur Erziehung: Methodik, Datenverarbeitung, Berichte, Benchmarking. Erfahrungen in zwei Städten
- „Eine etwas andere Erforschung unserer Wirkung ...“ Wie weder Zahlen noch Fakten, sondern wirkungsorientiertes Befragen zu einem Praxiskonzept im Jugendamt Stuttgart führten.
Den zweiten Arbeitstag eröffnete und moderierte Wolfgang Trede, Leiter des Jugendamtes Landkreis Böblingen. Er wies zu Beginn der Diskussion darauf hin, dass die Wirkungsdebatte in das Zentrum des aufgeklärten Denkens gerückt sei.
Was geht? Und geht noch mehr? Empirische Befunde über Gelingensbedingungen, Prozess- und Ergebnisqualität in den Hilfen zur Erziehung
Dr. Mike Seckinger, Leiter der Fachgruppe Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe, Deutsches Jugendinstitut e.V., München, verblüffte das Plenum damit, dass es die Antwort auf die oben gestellten Fragen zuerst bekommen hat. Und diese sahen zunächst so aus: „Es geht ziemlich viel in den Hilfen zur Erziehung! Man braucht sich weder zu verstecken noch erschrecken bei der Frage nach Wirkung, auch nicht im Vergleich zu anderen Hilfesystemen.“ Dies sei aber kein Aufruf zur Überheblichkeit. Denn: „Ja, es geht noch mehr!“ Auch wenn Jugendhilfe viel bewirke, gebe es noch genügend Fälle, in denen es anders laufen könnte. Und so lange es diese gibt, sei selbstreflexive Kritik wichtig, ohne sich gegenüber anderen Professionen klein zu machen. „Selbstreflexion ist ein Qualitätskriterium der sozialen Arbeit, das zur Verbesserung der Chancen beiträgt, dass das, was wir tun, tatsächlich wirkt.“ Studien in die Praxis zu übersetzen sei schwierig, vor allem in konkrete Handlungsanweisungen, weil „wir“ keine Technologie sind, sondern eine Profession. Und weil eine Vielzahl an potenziell intendierten Wirkungsebenen zu einer Vielzahl an sich zum Teil auch widersprechenden Wirkungskriterien führt.
Dazu kommen dann noch Wirkungswünsche aus Sicht von Adressaten, z.B. Kompetenz im Umgang mit Behörden, ein entspannterer Umgang mit den eigenen Kindern, Entlastung, soziale Vernetzung. Und es gibt Wirkungszumutungen, die an die Kinder- und Jugendhilfe gestellt werden. In jedem Fall aber sollten Interventionen und Menschen zusammenpassen. Wirkfaktoren außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf Symptomreduktion seien Persönlichkeitsmerkmale, höheres Alter bei Hilfebeginn (Eltern/Kinder), mangelnde Kooperationsbereitschaft („Krankheitseinsicht“), ausgeprägte Jugendhilfekarriere, Migrationshintergrund sowie viele Ortswechsel. Innerhalb der Jugendhilfe: Gute Hilfeplanung inklusive guter Diagnose, spezielle Form des Case Management, Ressourcenorientierung, Partizipation, Hilfedauer und Elternarbeit.
Trotz allem, was „wir“ wissen, bleibe – auch als Daueraufgabe - die Frage: Wie gut gelingt es uns, die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen tatsächlich zum Gegenstand unserer Hilfestrategien zu machen?
Wissen wir, was wir tun?
Über „Herausforderungen und Grenzen von Wirkungsanalysen für die Hilfen zur Erziehung“ sprach abschließend Prof. Dr. Christian Schrapper, Erziehungswissenschaftler, Universität Koblenz-Landau. Mit Bezug auf den Vortrag von Dr. Mike Seckinger plädierte auch er dafür, die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe für einen souveränen Umgang mit Wirkungszumutungen zu stärken. Wirkungsnachweise seien zentrale Kriterien für Qualität und Professionalität und: „Wir möchten so gerne wirksam sein“. Aber: Hilfen zur Erziehung sind keine Sozialtechnologie. Auch hierin sei er sich mit seinen Vorrednern einig. Folgende Thesen stellte er in seinem Vortrag zur Diskussion:
- Wie „gute Erziehung“ in Heimen wirken kann, wissen Praxis und Wissenschaft schon lange, aber interessiert das wirklich?
- Erfolge sind keine Wirkungen und Wirkungen nicht unbedingt erfolgreich – aber trotzdem ist nicht egal, was wir tun!
- Wissen, was wir tun! nicht nur: Tun, was wir wissen.
Herr Prof. Schrapper entwickelte in seinem Vortrag hierzu aufgrund quantitativer und qualitativer empirischer Studien und Befunde Antworten, die in der Dokumentation zu dieser Tagung ausführlich – wie alle anderen Beiträge auch – nachzulesen sind. Spürbar war - wie in vielen anderen Vorträgen auch - die große Empathie für das einzelne Schicksal Kinder und Jugendlicher:
„Die richtige Hilfe zur richtigen Zeit ist ein „Glücksfall“ menschlicher Begegnung, der nicht „technisch“ hergestellt werden kann ... und doch ist organisierte Erziehung gerade „schwieriger“ Kinder darauf angewiesen, dieses wenigstens ernsthaft und immer wieder zu versuchen!“
Es gebe keine Garantie, dass Erziehung gelingt. Sie sei immer ein Wagnis mit ungewissem Ausgang und trotzdem unverzichtbar. Für Erziehung brauche es Gelingensbedingungen, sie sei riskant und gefährlich und müsse geprüft und reflektiert werden, zusammen mit den Kindern. Erziehung sei eine Zukunftschance, was aktuell bei den Flüchtlingskindern zu sehen sei. Und: „Erziehung will Zukunft eröffnen, die keiner kennt.“
Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
im Deutschen Institut für Urbanistik, Berlin
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