Tagungsbericht
Einfach nur ein junger Mensch sein ...
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Kinder- und Jugendhilfe
Kommunale Strategien zur Integration junger Einwanderer entwickeln
Am 23./24. April 2015 fand die Fachtagung „Angekommen in Deutschland. Und nun? Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Kinder- und Jugendhilfe“ im Centre Francais in Berlin statt, die von der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik in Kooperation mit dem Deutschen Städtetag veranstaltet wurde. 220 Fachkräfte aus allen Bundesländern waren nach Berlin gekommen und diskutierten über eine Vielzahl fachpolitischer Fragen. Insbesondere die geplante Gesetzesänderung im Hinblick auf eine bundesweite Umverteilung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in andere Bundesländer und Kommunen wurde intensiv und teilweise auch kontrovers diskutiert. Es fand eine Verständigung darüber statt, welche unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in den Versorgungsbereich der Kinder- und Jugendhilfe fallen, welche Einzelaspekte zu klären und zu bewältigen sind und mit welchen Hilfeformen sie darin unterstützt werden können, die aktuelle Situation zu meistern und Perspektiven für ihre Zukunft zu entwickeln. Im Mittelpunkt der Tagung stand die Vorstellung von Praxisbeispielen sowie Ideen zur Entwicklung kommunaler Strategien zur Integration junger Einwanderer zu sammeln und einen bundesweiten Erfahrungstransfer zu initiieren.
Hoffnung auf soziale Integration
Prof. Martin zur Nedden, Wissenschaftlicher Direktor und Geschäftsführer, Deutsches Institut für Urbanistik (Difu), Berlin, sagte in seiner Eröffnungsrede, dass derzeit der Beweis dafür erbracht werde, von welch zentraler Bedeutung alle Aspekte der Gewährleistung von sozialer Stabilität in unseren Städten und der Gesellschaft insgesamt sind. Die Kinder- und Jugendhilfe spiele im Kontext der Gesamtproblematik eine sehr große Rolle. „Wir sollten uns immer wieder bewusst machen, dass gerade die Fähigkeit der Integration und die Eigenschaft, soziale Integration zu ermöglichen, Zuwanderer angezogen hat und diese nun ihrerseits ein sehr wichtiges Element der positiven Entwicklung von Städten waren und bis heute sind.“ Dies für die Zukunft – auch mit der Aufnahme und Integration unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge - sicherzustellen, sollte unser Anliegen sein.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufnehmen, fördern und integrieren!
Dr. Stephan Articus, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Städtetages, Berlin, sagte in seinem Grußwort, die Zuwandererproblematik sei eine der menschlich drängendsten Probleme, umso wichtiger sei es, dass wir uns damit befassen. 2015 würden nach einer Prognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bis zu 400.000 Zuwanderer nach Deutschland kommen. Die Gesellschaft sei aufgefordert, sich der empathischen Aufnahme von Flüchtlingen zu stellen. Das heiße, sich nach außen solidarisch zeigen und nach innen radikalen Bewegungen den Nährboden zu entziehen. Zum Stichtag 21.12. 2014 lebten ca. 18.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland, im vorläufigen Schutz oder in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe und ihre Zahl wachse ständig. Die Zuständigkeit für ihre Versorgung richtet sich nach dem Ort der Ankunft, also ihrer Inobhutnahme. Eine interne Umfrage des Deutschen Städtetages bei der Konferenz der Leiter/innen der Großstadtjugendämter zeige die Dramatik, die diese Zuständigkeitsregelung für einzelne Städte hat, z. B. für München, Hamburg, Frankfurt am Main, Aachen, Freiburg und viele weitere Städte in grenznahen Gebieten, hat. Die große Belastung einiger Jugendämter hat zu einem Eckpunktepapier des BMFSFJ zur Verteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge auf mehr Jugendämter geführt, um eine jugendhilfeadäquate Unterbringung und Versorgung sicherzustellen. Gleichzeitig müsse auch das Kindeswohl beachtet werden. Die Jugendämter können die schwierige Aufgabe aber nicht allein bewältigen. Sie sind auf professionelle Netzwerke und ehrenamtlich Engagierte angewiesen.
Hinter den Zahlen stecken Schicksale
Dr. Heike Schmid-Obkirchner, Leiterin des Referats Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin, stellte in ihrem Grußwort die Eckpunkte des „Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ vor. Der Gesetzentwurf habe drei zentrale Ziele. „Er will erstens die Situation junger Flüchtlinge deutschlandweit verbessern und die Rechte dieser jungen Menschen stärken. Er will zweitens das Kindeswohl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Unterbringung, Versorgung und Betreuung sicherstellen und drittens die Belastung der Kommunen gerechter verteilen.“ Zudem bestehe der Gesetzentwurf aus unterschiedlichen Regelungsbereichen, dies betreffe:
- die Klarstellung, „dass ausländische Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus Zugang zu Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe erhalten sollen“,
- die Aufnahmepflicht aller Bundesländer im Hinblick auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die ein bundesweites und landesinternes Verteilungsverfahren – ausgerichtet am Kindeswohl und dem besonderen Schutzbedürfnis unbegleiteter Minderjähriger – ermöglicht, unter Beibehaltung des Primats der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Primärzuständigkeit des Jugendamtes für Erstversorgung, Unterbringung, Clearingverfahren und für an die Inobhutnahme anschließende Hilfeleistungen für unbegleitete ausländische Minderjährige
- sowie die Maßgabe, dass die Verteilung an ein Jugendamt erfolgt, das geeignet ist, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge entsprechend ihrer besonderen Bedarfslage und ihrem besonderen Schutzbedürfnis aufzunehmen und zu betreuen. Es sei Aufgabe der Länder zu entscheiden, welche Jugendämter in Frage kommen und wie dies landesintern gestaltet wird. Da in einigen Ländern und Kommunen erst Voraussetzungen für eine Aufnahme geschaffen und Kompetenzen aufgebaut werden müssen, sei eine Übergangsphase von einem halben Jahr zur Vorbereitung auf die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geplant.
- Anhebung der Altersgrenze zur aufenthalts- und asylrechtlichen Handlungsfähigkeit von 16 auf 18 Jahre: Damit werden die 16 bis 18 jährigen auch im Ausländerrecht wie Minderjährige behandelt.
20 Jahre Erfahrung mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Fürstenwalde
Mathilde Killisch, Heimleiterin, Jugendprojekt ALREJU – Stationäre Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Diakonisches Werk Oderland-Spree, Fürstenwalde, erläuterte in einführenden Bemerkungen die Projektstruktur. Das Jugendprojekt ALREJU (Allein reisende Jugendliche) wurde im Jahr 1993 gegründet, als die ersten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in größerer Anzahl nach Brandenburg kamen und in der Jugendhilfe untergebracht und betreut werden sollten. Zu dieser Zeit gab es noch keine Unterbringungsmöglichkeiten für diese Kinder und Jugendlichen. Das Land Brandenburg habe sich damals entschieden, eine Spezialeinrichtung für das ganze Land aufzubauen. In den 22 Jahren Projektgeschichte wurden im ALREJU etwa 2.000 Kinder und Jugendliche aus 58 Ländern kurzfristig oder auch über Jahre betreut. Dies waren hauptsächlich männliche Jugendliche, der Anteil der Mädchen schwankte in der Regel zwischen 10 und 20 Prozent. Die Jugendlichen sollten so schnell wie möglich Deutsch lernen und so gut wie möglich für einen qualifizierten Schulabschluss vorbereitet werden, was der Schule auch immer wieder gelinge. Da inzwischen immer mehr Jugendliche ohne schulische Vorbildung im ALREJU ankommen, müsse eine Alternative zu diesem klassischen (Lern)Weg entwickelt werden.
Johannes Horn, Leiter des Jugendamtes Düsseldorf und Vorsitzender der Konferenz der Leiter/innen der Großstadtjugendämter des Deutschen Städtetages, moderierte den ersten Tagungstag und sprach mit drei Jugendlichen aus dem Projekt ALREJU über ihre Fluchtgründe, ihren Weg nach Deutschland, ihre ersten Erfahrungen in Deutschland und ihre Wünsche für die Zukunft. Zu Gast waren Thi Oanh D. aus Vietnam, Pauline M. aus Kenia und Safiullah W. aus Afghanistan, die sehr bewegend über ihre Erfahrungen berichteten. Hier einige Auszüge aus dem Bericht von Safiuallah W.:
Ich bin Safiullah, 17 Jahre alt. Ich komme aus Afghanistan und bin seit einem Jahr in Deutschland. Ich bin nach Deutschland geflüchtet, weil ich viele schwere Situationen erlebt hatte. (…) In unserem Land gibt es seit 35 Jahren Krieg. (…) Wegen des Krieges musste ich mein Heimatland verlassen. Ich war ein normales Kind und hatte mit meinen Eltern in unserer Gesellschaft ein normales Leben. Als ich meinen Onkel, meine Brüder und andere durch Selbstmordattentate verloren hatte, war ich der letzte Sohn meiner Mutter. Ich war selbst durch diese Explosion verletzt. Meine Mutter sagte mir, ich müsste dieses Land verlassen, weil sie mich nicht auch noch verlieren wollte. (…) Ich wollte einfach weiterleben und nicht sterben. (…) Als ich nach Deutschland gekommen war, wünschte ich mir zuerst, dass ich irgendwo bleiben könnte, wo es keinen Krieg und keinen Streit gibt und wo man in Ruhe leben kann und keinen Stress hat. Ich wollte nur ein Dach über dem Kopf und ein Bett, nicht mehr. Es war auch mein Ziel und mein Traum, schon als ich ein Kind war, ein Arzt zu werden. Als ich herkam, sah ich, dass ich hier die Gelegenheit habe zu lernen. Man muss mit dieser Gelegenheit weiterdenken und kämpfen, um sein Ziel zu erreichen. Mein Ziel ist es, mein Abitur zu machen und Arzt zu werden, um den Leuten zu helfen und auch meinem Heimatland zu helfen, dass die Leute nicht irgendwann alle wegen des Krieges heraus müssen. Warum sollen sie ihr Heimatland verlassen? Warum sollen sie irgendwo anders hingehen? Wenn wir unsere Gesellschaft haben, wenn wir unser eigenes Land haben - warum sollen wir irgendwo anders hingehen, wo die Leute uns Fremde nennen und uns einfach ohne Grund beleidigen können?
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge:
Woher kommen sie, wer sind sie, was bringen sie mit?
Uta Rieger, Kinderflüchtlings- und -rechtsexpertin, UNHCR - The UN Refugee Agency, Nürnberg, ging in ihrem Vortrag auf das Profil der unbegleiteten Minderjährigen (Anzahl, Altersstruktur, Herkunftsländer), die Fluchtwege, Fluchtgründe sowie die Herausforderungen beim Erkennen und Bewerten kinderspezifischer Fluchtgründe ein. Sie berichtete, dass vor allem 2014 die Zahlen sehr stark angestiegen sind. Im Januar bis März 2015 kamen 1.487 unbegleitete Minderjährige. Hochgerechnet käme man für das Jahr 2015 auf eine Zahl von knapp unter 6.000 Asylanträgen, wenn die Tendenz so weitergeht wie bisher. Es seien sehr viel mehr unbegleitete Minderjährige männlichen als weiblichen Geschlechts, wobei die Zahl der bis 13-Jährigen sehr gering sei. Es überwiege klar die Zahl der 16- bis 17-jährigen männlichen unbegleiteten Minderjährigen.
Die unbegleiteten Minderjährigen kommen hauptsächlich aus Afghanistan – und das bereits seit mehreren Jahren –, gefolgt von Eritrea, Syrien und Somalia. Gefährlich sei nicht nur der Weg über das Mittelmeer, sondern der Weg durch die Sahara, ebenso der Landweg von Afghanistan hierher – über den Iran, die Türkei, Griechenland, Bulgarien usw. Jugendliche seien auf diesen Wegen oft Schleppern ausgeliefert und die Gefahr, dass sie (auch sexuell) ausgebeutet werden, sei sehr groß. Dabei müsse man bedenken, dass die Flucht Monate, manchmal auch Jahre dauere. Immer stärker gebe es das Phänomen der Trennung von Familien auf der Flucht, so dass Minderjährige dann allein hierherkommen. Die Fluchtgründe seien sehr unterschiedlich, z.B. aufgrund von Krieg oder religiöser Verfolgung. Es gebe aber auch sehr kinderspezifische Fluchtgründe, wie z.B. die Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten oder geschlechtsspezifische Verfolgung wie Zwangsbeschneidung und Zwangsheirat von Minderjährigen. Typischerweise sind diese Kinder besonders schutzbedürftig, wenn sie keine Familie mehr haben, die sie schützen kann. Es gebe aber auch das Phänomen, dass Jugendliche aus bestimmten Ländern hier in Deutschland delinquent werden. Dabei fehle häufig der Blick darauf, welche Strukturen in den Herkunftsländern dahinterstecken und dass Jugendliche möglicherweise gezielt dafür angeworben werden, nach Deutschland zu gehen, um hier im Drogenhandel aktiv zu werden usw. In diesen Fällen sind sie keine Täter, sondern Opfer. Eine intensivere Diskussion darüber wäre sehr hilfreich.
Weichen stellen für Schicksale mit dem notwendigen Hintergrundwissen …
Ursula Gräfin Praschma, Abteilungspräsidentin, Abteilung Grundlagen des Asylverfahrens und Sicherheit, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, referierte nach einer kurzen Vorstellung des Bundesamtes über „Rechtliche Grundlagen in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“. Ihr Vortrag umfasste folgende Schwerpunkte:
- Grundlagen (Richtlinien und Internationale Abkommen zum Schutz Minderjähriger; Definition „Unbegleitete Minderjährige“)
- Aufnahme von „Unbegleiteten Minderjährigen“
- Das Asylverfahren bei „Unbegleiteten Minderjährigen“
- Aufenthalt von „Unbegleiteten Minderjährigen“.
Insbesondere der Ablauf und die Zuständigkeiten der oben genannten Punkte 2 bis 4 dieser sehr komplexen und juristischen Thematik stieß bei den Teilnehmenden auf großes Interesse und viele Nachfragen. Ein hoher Wissens- und Austauschbedarf unter den teilnehmenden Fachkräften sowie das Bedürfnis nach einer engeren und zukünftig auch erforderlichen Abstimmung mit dem Bundesamt war deutlich erkennbar. Allein das Thema dieses Vortrages würde eine eigene Tagung rechtfertigen.
Der Ruf nach bundeseinheitlichen Standards
An einer Podiumsdiskussion über „Die Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ beteiligten sich Dr. Andreas Dexheimer, Geschäftsstellenleiter, Diakonie – Jugendhilfe Oberbayern, München, Mirko Engel, Gesamtkoordination für den Bereich der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge im Jugendamt des Regionalverbandes Saarbrücken, Lucas-Johannes Herzog, Vorstandsmitglied, Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V. IGFH), Abteilungsleiter Erziehungshilfen im Jugendamt Stuttgart, sowie Carolin Krause, Leiterin des Amtes für Kinder, Jugendliche und Familien, Köln.
Nach einer kurzen Vorstellung der Gesprächspartner/innen und ihrer jeweiligen aktuellen Situation in ihrer Stadt wurden unterschiedliche Aspekte diskutiert, wie die Kinder- und Jugendhilfe ihrer Verantwortung bei der Aufnahme und Integration von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gerecht werden kann. In diesem Kontext wurden bundeseinheitliche Standards für die Aufnahme und Integration von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen für notwendig befunden und gefordert, die bisher aber nicht vorgesehen sind, da hier die einzelnen Länder bei der Ausgestaltung eigenverantwortlich sind. Am Beispiel der Stadt München wurde exemplarisch deutlich, wie schwierig es derzeit ist, eine fachgerechte Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in der Inobhutnahme sicherzustellen, da Ressourcen, Fachkräfte, Immobilien fehlen und die realen Zahlen und Prognosen der Inobhutnahme fast täglich nach oben korrigiert werden müssen. So wurde u.a. die Frage danach gestellt, wie mit dem im SGB VIII verankerten Wunsch- und Wahlrecht im Hinblick auf die geplante Umverteilung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge umzugehen sei. Und auch, was die größere Gefährdung im Hinblick auf das Kindeswohl ist: Eine Unterbringung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Kommunen ohne Erfahrungen oder in überbelegten Unterkünften? Die Kommunen sollen Aufgaben übernehmen, die eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellen. Sie brauchen dabei – nicht nur finanzielle – Unterstützung. Dieser Bedarf nach Unterstützung komme auch stark in dem Wunsch nach kommunalen Gesamtkonzepten zum Ausdruck, die schnell erarbeitet und etabliert werden müssen. Ein wesentlicher Teil davon bestehe z.B. in einer Öffnung der Regelangebote für begleitete und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und nicht in der Etablierung von Spezialeinrichtungen. Präferiert werden sollten integrierte Lösungen. In vielen Kommunen gebe es auch großes Interesse, sich ehrenamtlich zu engagieren. Alle Akteure müssten an einen Tisch, damit (neue) Netzwerke und Bündnisse entstehen: Denn der Umgang mit oft hochmotivierten und integrationswilligen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mache auch Spaß und ihre Integration ist eine Chance und Bereicherung für unsere Gesellschaft. Deshalb müsse dringend nicht nur über eine Umverteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, sondern auch über den Aufbau von Strukturen geredet werden!
Vorstellung kommunaler Praxis in Arbeitsgruppen
Am Nachmittag des ersten Tagungstages fand eine Diskussion in sechs Arbeitsgruppen statt, wobei insbesondere die Themen Inobhutname, Clearing und Altersfeststellung sowie Anschlusshilfen nachgefragt waren. Die Teilnehmenden konnten zwischen folgenden Angeboten wählen:
- Inobhutnahme, Clearing und Altersfeststellung – Ganzheitliche Anforderungen an eine Erstversorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen
- Gestaltung von Vormundschaften – Sicherung des Rechtsbeistandes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
- Gesundheit/Krankheit bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen/MitarbeiterInnenschutz
- Umgang mit Traumata
- Alltagsbildung für junge Flüchtlinge: Möglichkeiten einer integrationsfördernden Erziehung
- Bedarfsgerechte Angebote der Kinder- und Jugendhilfe (Anschlusshilfen)
Die Inputs zu diesen Arbeitsgruppen sowie alle Referate im Plenum sind in der Dokumentation zur Tagung nachzulesen, die zeitnah erscheinen wird.
Ein integriertes Gesamtkonzept für die Aufnahme, Betreuung und Integration der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge fehlt
Die fachpolitische Podiumsdiskussion „Aktueller Stand der gesetzlichen (Neu)Regelungen. Podiumsdiskussion über die Umsetzung in Politik + Praxis. Wie stelle ich mich auf die aktuelle Situation ein in Hamburg, Berlin, Dresden und …“, wurde von Regina Offer, Hauptreferentin, Deutscher Städtetag, Berlin, moderiert. Gesprächspartner/innen waren Dr. Helmut Hinze, Leiter des Jugendhauses Berlin-Friedrichshain, Johannes Horn, Leiter des Jugendamtes Düsseldorf, Miriam Pilz, Besondere Soziale Dienste der Landeshauptstadt Dresden, Ulrike Schwarz, Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (BUMF), Berlin sowie Dr. Herbert Wiedermann, Abteilungsleiter, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, Hamburg.
Ulrike Schwarz machte darauf aufmerksam, dass die Umverteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, evtl. nicht dem Kindeswohl entsprechen könnte. Der Entwurf enthalte keine Aussagen zum Strukturaufbau in den Regionen, die bisher nicht oder kaum mit diesem Thema befasst waren. Zudem existiere kein bundesweites Aufnahmekonzept und damit auch keine verbindlichen Aussagen, wie die Kommunen bei der Erfüllung dieser Aufgabe finanziell unterstützt werden können. Die Einhaltung von jugendhilfegerechten Standards koste Geld. Es werde bezahlbarer Wohnraum gebraucht, der in vielen Großstädten nicht einfach zu finden sei, aber auch Fachkräfte, die vorbereitet und geschult im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind. Intensiv wurde die Frage diskutiert, ob es bundeseinheitliche Standards für die Aufnahme, Betreuung und Integration unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge geben muss. So betonte z.B. Herr Dr. Wiedermann, dass der Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland die sozialpolitische Herausforderung in den nächsten Jahren sein werde und die damit verbundenen Kosten bezahlt werden müssten. Auch sei noch nicht klar, wie eine echte Integration in den Kommunen erfolgen soll, bisher gehe es zunächst um eine Erstaufnahme und Notversorgung. Ein integriertes Gesamtkonzept sei notwendig, das bisher aber noch nicht in Sicht sei. Bei aller Diskussion um Strukturen, Ressourcen und Geld dürfen die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge nicht aus dem Blick verloren werden. Im Hinblick darauf wurden die von Frau Dr. Schmid-Obkirchner genannten Eckpunkte zur schnellen Umverteilung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sieben Tage nach ihrer Ankunft in Deutschland hinterfragt. In der Praxis werde sich zeigen, ob dies funktioniert. Verteilung sei auch eine Frage von Partizipation. Viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, hätten ein konkretes Ziel, eine bestimmte Stadt und den Auftrag von zu Hause mitgebracht, ihre Herkunftsfamilie später zu unterstützen. Auch auf die Vormünder kommen viele Fragen und neue Aufgaben zu, insbesondere dann, wenn sie mit asylrechtlichen Fragen ihrer Schützlinge konfrontiert werden. Es sei jetzt an der Zeit, noch vor Inkrafttreten der Neuregelungen, in den Kommunen, die diese Strukturen noch nicht haben, Erstversorgungsplätze und Strukturen aufzubauen und Fachkräfte für diese Aufgabe zu qualifizieren. Es müssen Gesundheitsuntersuchungen organisiert, Schulplatzvergabe und viele andere Dinge geregelt werden. Zudem könne die Zivilgesellschaft in die Betreuung und Integration der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge einbezogen werden. Es gebe ein hohes Interesse von Freiwilligen, das aber gesteuert werden muss. Dies alles in relativ kurzer Zeit aufzubauen, sei auch eine Frage der Vernetzung der Kinder- und Jugendhilfe und der Solidarität untereinander. Es sind menschliche, humanitäre und jugendpolitische Fragen mit denen wir uns auseinandersetzen und nicht zuletzt sei deshalb auch die Frage zu klären, wie viele Belastungen den Fachkräften z.B. bei der Inobhutnahme oder den Vormündern zuzumuten sei. Hier müsse in Fachlichkeit investiert werden, um diese Aufgaben langfristig in guter Qualität erfüllen zu können. Denn damit steigen auch die Chancen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge auf eine echte Integration.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Zeit ist Gold
Michael Stenger, Vorstandsvorsitzender und ehemaliger Schulleiter der SchlaU-Schule in München, referierte über Bildungschancen und Bildungsmöglichkeiten für Flüchtlingskinder und stellte hierbei exemplarisch die SchlaU-Schule in München-Ludwigsvorstadt vor.
Er begann seinen Vortrag mit der Metapher, dass für viele Flüchtlingskinder Zeit nicht Geld, sondern Gold sei, was „übersetzt“ bedeute, schnell erwerbstätig zu werden, um endlich ihre Familien zu Hause unterstützen zu können. Die SchlaU-Schule vermittle den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nicht nur Deutsch und sprachsensiblen Fachunterricht, sondern auch Werte und Normen. Der Schulunterricht dauere in der Regel drei Jahre und es gebe einen „Support“ vom Beginn des Deutschlernens bis zum Ende der Ausbildung. Die Schulabschlussquote liegt bei 95 bis 98 Prozent, die Vermittlungsquote in Ausbildung bei 98 Prozent. Um den Übergang von der Schule in die Ausbildung gewährleisten und betreuen zu können, wurde vor einigen Jahren das Projekt „Schlauzubi“ ins Leben gerufen. Dies habe sich sehr bewährt, wie auch viele Ausbildungsbetriebe bestätigen, die sehr gute Erfahrungen mit hoch motivierten Jugendlichen gemacht haben. Als besonderer Erfolg sei die Einführung der Berufsschulpflicht für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Zusammenarbeit und mit Unterstützung des Bayerischen Kultusministeriums anzusehen. Diese Form von Inklusion sei die höchste Form der Integration der Flüchtlingskinder.
Einfach nur ein junger Mensch sein …
Zum Abschluss der Tagung sprach Dr. Andreas Dexheimer, Geschäftsstellenleiter, Diakonie - Jugendhilfe Oberbayern, München, über ein sehr grundsätzliches Thema: „Flüchtlingskinder als Zukunftsthema für soziale Arbeit“. Er ging zunächst noch einmal auf die Zielgruppe ein und machte deutlich, dass begleitete und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einfach nur junge Menschen sind, die nach Zugehörigkeit (Geborgenheit) und Anerkennung suchen und lernen, spielen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben möchten. Im Vordergrund müsse neben „Bedürfnisbefriedigung“ die Verwirklichung von Kinderrechten und das Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit stehen. Dies erfordere von den Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe ein spezifisches Wissen und Können, wie z.B. interkulturelle Sensibilität und Kompetenz, Wissen über die Herkunftsländer, Fluchtgründe und Fluchtwege, Sicherheit im Umgang und in der Vermittlung der „eigenen“ Kultur sowie Kenntnisse im Asyl- und Ausländerrecht.
Das heißt nichts anderes als: Wir als Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch die Fachkräfte in den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, im Gesundheitswesen, in Einrichtungen der Kultur und des Sports, im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), in den Melde- und Ausländerbehörden und auch die Zivilgesellschaft sind aufgefordert, uns dieses humanitären und gesellschaftlichen Auftrags, uns um diese besonders schutzbedürftige Klientel zu kümmern, anzunehmen und gut zu erfüllen. Wir sind dabei.
Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
im Deutschen Institut für Urbanistik
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